Wasser durchdringt die neue Werkserie in der Einzelausstellung von Cyprien Gaillard (geb. 1980, Paris). Diese bedeutende, zugleich oft unsichtbare Kraft bestimmt unsere Wirklichkeit: Es liegt in der Luft, die wir atmen, formt die Linien der Landschaft und erodiert das Gefüge unserer Städte. In den Schnittstellen von menschlichen Relikten, urbaner Geografie und Psychologie erschafft Gaillard ein außergewöhnliches Universum, das Phänomenen wie zivilisatorischen Umwälzungen und geologischer Zeit neue Gestalt verleiht. Über Medien wie Fotografie, Skulptur, Film, Video, Collage, Installation und Live-Performance entfaltet sein Werk eine Sprache des Verfalls, die Geschichte neu ordnet und die Gegenwart in einem anderen Licht erscheinen lässt.
In „Wassermusik“ fasst Gaillard Wasser als elementare Kraft auf – es durchquert die Zeit und verbindet Spuren zerfallener Geschichten. Durch architektonische Interventionen, Film, Skulpturen und Archivmaterialien verändert er die Südgalerie mit Relikten wie Hinweisschildern aus den 1930er-Jahren, jüngeren Möbelstücken oder einem abgenutzten Teppich aus dem Kellergeschoss. Damit legt er die Spuren der einstigen Mieter*innen des Gebäudes offen. Zu den beständigsten nicht-menschlichen Zeugen gehören die Ammonitenfossilien im Marmorboden, die im Wasserlicht schimmern.

Im Zentrum der Ausstellung steht Gaillards neuester stereoskopischer Film Retinal Rivalry (2024), teilweise in München gedreht und koproduziert vom Haus der Kunst. Mit modernster Technologie erschafft Gaillard eine erweiterte, geschärfte und zutiefst eindringliche Sicht auf die Welt um uns herum. Dieses Schlüsselwerk innerhalb seines Œuvres definiert das bewegte Bild als Skulptur neu. Es führt die Betrachter*innen auf eine Reise durch verflochtene Zeit und unzugängliche urbane Oberflächen: Müllcontainer und unterirdische Adern, feuchtwarme Landschaften und Ausblicke aus den Augen der Bavaria-Statue über das Oktoberfest. In seinem skulpturalen und psychedelischen Raum unterläuft das Werk gewohnte Wahrnehmungsmuster, löst Erzählung auf und eröffnet eine unmittelbare Vision.
Zwei eigens von Gaillard erarbeitete Werkgruppen aus Archiven sind wichtige Bestandteile des zweiten Teils der Ausstellung: aus dem Haus der Kunst in München und dem Musée de l’Orangerie in Paris – beides Orte, die die Narben des Zweiten Weltkriegs tragen. Eine Auswahl an Möbeln (ca. 1937 bis heute) aus dem Haus der Kunst lagert schwer im Raum und ruft die Verhandlungen seiner früheren Mieter*innen über die Nutzung des Gebäudes in Erinnerung. Die nun leeren Stühle evozieren die gespenstische Präsenz dieser Figuren, die noch immer im Raum nachhallen. Prägnante Fotografien dokumentieren die Wasserschäden im Musée de l’Orangerie im Sommer 1944, als Bomben Decken einstürzen ließen: Wasser kroch über die Oberflächen, aufplatzende Schichten legten geisterhafte Blumenmuster frei – ein unheimliches Echo auf Monets letzte Seerosen-Gemälde in der vom Künstler entworfenen Architektur. Durch diese Zusammenstellung entfaltet Gaillard einen Dialog zwischen Naturkräften und menschlichen Konstruktionen, verwandelt Orte in lebendige Monumente und entwirft zeitliche Visionen jenseits des Hier und Jetzt.
Die neue Skulptur Absorbent Figure (2025), aus Aluminium gefertigt, ist einem kleinen Souvenir-Buddha nachempfunden, der in den 1970er-Jahren in Indonesien erstmals als touristisches Kunsthandwerk auftauchte – und nicht als religiöses Symbol. In monumentaler Form zeigt er einen Kopf, der dauerhaft in die Arme gesenkt ist, als Ausdruck tiefster Trauer. In dieser doppelten Bedeutung wird er zu einem paradoxen Zeugen von Erosion, Glauben und Überlieferung über die Zeiten hinweg.
Diese Ausstellung setzt die Vision des Haus der Kunst fort, die Bedeutung von Baudenkmälern losgelöst von ihrem ursprünglichen Zweck neu zu definieren und zu untersuchen, wie öffentliche Denkmäler neue kollektive Erfahrungen schaffen können. Nach Einzelausstellungen wie „Voices“ von Philippe Parreno, „Mute“ von Pan Daijing und „Window of Tolerance“ von Wang Shui setzt Gaillards neue Ausstellung das experimentelle Programm des Haus der Kunst fort, indem sie modernste Technologie und zeitbasierte Medien integriert und Lebendigkeit als neue Form der Ausstellungsgestaltung und künstlerischen Praxis erforscht.
Diese Ausstellung wird durch die Unterstützung der Freund*innen des künstlerischen Geschäftsführers und der Hauptkuratorin ermöglicht.
Kuratiert von Xue Tan mit Lydia Antoniou und Laila Wu.