Zu ihrer eigenen Überraschung führten die nächtlichen Spaziergänge der Autorin Christine Wunnicke im Frühjahr dieses Jahres regelmäßig zum Haus der Kunst. Ihre Erlebnisse hat sie in einem Blogbeitrag für uns zu einer kurzen Erzählung zusammengefasst.

Im Frühjahr 2020, in den Wochen des pandemischen Lockdowns, verbrachte ich unerklärlich viel Zeit in den Außenbereichen um das Haus der Kunst, meistens zwischen 2 und 4 Uhr früh, in einem Zustand entschleunigten Grauens. Ich weiß nicht mehr, warum meine nächtlichen Wanderungen immer wieder hier geendet haben, und auch meine Erinnerung an diese Stunden ist nicht verlässlich.

Ununterbrochen, in der finstersten Nacht, unsichtbar und penetrant, haben die Amseln gesungen. Die Straße war voller Häschen. (Wildkaninchen. Oryctolagi cuniculi. Kulturfolger. Sie leben in Städten. Das ist normal.) Sie tummelten sich auf dem Gehweg und auf der Fahrbahn, sie kamen auf die Treppen und hoppelten über die Terrasse und interessierten sich für den Eingang der Goldenen Bar. Nicht für mich. Ich ging zwischen ihnen wie ein Geist. Ich erinnere mich an eine Häschenarmee, die diese Terrasse erobert und mich ignoriert, jede einzelne pandemische Nacht. Das kann eine Gedächtnisstörung sein.

Ich erinnere mich exakt und zuverlässig an ein Stockentenpaar, das unter den Projektionen der Franz-Erhard-Walter-Installation an der Westfassade schlief. Shifting Perspectives.
Ich erinnere mich emotional verzerrt an einen großen Igel, der aus dem Englischen Garten und auf den Parkplatz hinter dem Museum kam und dort länger still verharrte. Ich schaute ihm von der Treppe aus zu. Es passierte nicht viel. Der Igel war da. Irgendwann ging er auch wieder davon.
Ich erinnere mich vage an eine 'komische Ente'. Nachträglich habe ich sie als Streifengans identifiziert. Sie kam aus der Dunkelheit, sah mich auf den Stufen, erschrak und floh.
Ich erinnere mich lebhaft an meine Erleichterung.
Die Amseln waren zu laut und zu früh.

Im Sommer 2020, nachdem der Lockdown vorbei war, führte ich neue, weniger verwaschene Beobachtungen durch. Ich brachte diesmal mein Telefon mit, eine Taschenlampe, ein Notizbuch und einen Feldstecher und verbrachte jeweils drei akademische Stunden in drei verschiedenen Nächten, zwischen 2 und 4 Uhr früh, in allen Außenbereichen des Hauses der Kunst, die ich ohne Gefahr für Leib und Leben erreichen konnte.

Da war nichts.
Das Rauschen des Eisbachs, ab und zu in der Ferne ein Auto. Kein Vogel, kein Häschen, kein Igel, nichts. In der ersten Nacht umkreiste ich das Gebäude 45 Minuten lang. Spinnennetze mit Spinnen, an den hellen Stellen, wo die meiste Beute ist. Asseln in den Mauerritzen. Eine große Kakerlake. Eine tote, vertrocknete Nacktschnecke. Auf den angestrahlten Plakaten im Osten Fruchtfliegen. Trauermücken, Florfliegen und ein einzelner breitgesäumter Zwergspanner, idaea biselata.
In einem Fenster über der Terrasse befand sich eine Häschenattrappe. Eine kleine Silhouette mit aufgestellten Ohren. Warum? Ratlos knipste ich fünfzehn Fotos, mit Blitz und ohne. In der letzten Minute kam eine Fledermaus (Wasserfledermaus, nicht Pipistrella), die im Zickzack zwischen Ai Weiweis gespreizten Vasen flog.

Zwergspanner, Foto: Christine Wunnicke
Zwergspanner, Foto: Christine Wunnicke
Häschenattrappe, Foto: Christine Wunnicke
Häschenattrappe, Foto: Christine Wunnicke

In der zweiten Nacht waren sogar die Spinnennetze verlassen, also studierte ich die Vegetation. Efeu, Gundermann-Efeu, Wilder Wein. Zu viele junge Eschen. Viel Franzosenkraut. Viel Schöllkraut, zu viel Stickstoff im Boden. Huflattich. Brennnesseln und Taubnesseln. Gras und anderes Gras. Löwenzahn. Haselwurz. Wegerich. Springkraut. Farn und mehr Farn, zerzaust. Geißfuß. Schaumkraut. Disteln, tot und lebendig. Blühende Zaunwinde. Abgeblühter Storchschnabel.
Jemand hatte ein vergittertes Fenster mit Sukkulenten und einer künstlichen Rose geschmückt.

Sukkulenten, Foto: Christine Wunnicke
Sukkulenten, Foto: Christine Wunnicke

In der dritten Nacht entnahm ich aus einer kleinen Pfütze auf dem Parkplatz eine Wasserprobe, trug sie nach Hause und mikroskopierte sie. Nicht viel war darin. Pflanzenfasern, Sand, ein wenig sehr hübscher Schimmel. Kein Bakterium, kein Pantoffeltierchen. Vielleicht etwas Hefe oder Stärke von Bier oder Fritten.

Der Bürgersteig lag voller E-Roller. Auf der Fahrbahn fuhren Autos. Homo Sapiens, homo sapiens. Die Streifengänse trieben still auf dem Teich beim japanischen Teehaus. Die Häschen waren längst zurück bei der Staatskanzlei, wo sie hingehören.
Ein Gefühl, als ob etwas wartet.

Christine Wunnicke ist Autorin und zum dritten Mal für den deutschen Buchpreis nominiert. Für das Haus der Kunst arbeitet sie seit vielen Jahren als freie Übersetzerin.