Die Künstlerin Christine Sun Kim (*1980 in Orange County, USA) erforscht, wie Klang und Sprache den Zugang und die Teilhabe an Gesellschaften, ihren Institutionen und Infrastrukturen prägen. In einer Welt, die verbale und auditive Kommunikation bevorzugt, übersetzt Kim Klang sowie Stimme und Musik in visuelle und physische Ausdrucksformen. In diesen konzeptuellen Kompositionen verbindet Kim Darstellungen der Amerikanischen Gebärdensprache (ASL) mit englischer Schriftsprache, musikalischer Notation und Poesie. Kim greift dabei auf ihre persönlichen Erfahrungen zurück, um unausgesprochene Verhaltensmuster und Formen der Ausgrenzung aufzuzeigen. 

Für die Mittelhalle des Haus der Kunst hat Kim ein ortsspezifisches, multimediales Werk geschaffen, welches die körperliche Erfahrung von Zeitlichkeit in eine raumgreifende, sensorische Partitur übersetzt. Die Komposition setzt sich aus statischen und dynamischen Elementen zusammen, die auf mehrfach vergrößerten Zeichnungen der Künstlerin basieren. Während die gesprochene Sprache nur eine Form des Zählens kennt, differenziert die Grammatik der Amerikanische Gebärdensprache zwischen verschiedenen Arten des Zählens. So unterscheiden sich die Gebärende für das Zählen von Häufigkeit, Zeit, Alter oder Währung. Die Positionierung der zählenden Hand an bestimmten Körperstellen wie Handgelenk, Kinn oder Stirn zeigt an, in welcher Einheit gezählt wird. In Kims multimedialer Installationen kreisen animierte Darstellungen dieser Zähleinheiten in der Amerikanischen Gebärdensprache neben ihren schriftlichen Entsprechungen. Die Bodenfläche, die von Schrift- und Bewegtbild in verschiedene Felder gegliedert wird, repräsentiert dabei die verschiedenen Körperzonen. In Intervallen nähern sich die Animationen – schematische Darstellungen von Händen – den Schriftbildern an, bis sie diese treffen und von ihnen abprallen. Durch dieses Zusammentreffen von Schrift- und Bewegtbild werden die physischen Eigenschaften der Amerikanischen Gebärdensprache sichtbar.

Christine Sun Kim. „Every Life Signs“ Installationsansicht. Haus der Kunst 2022. Foto: Judith Buss
Christine Sun Kim. „Every Life Signs“ Installationsansicht. Haus der Kunst 2022. Foto: Judith Buss
Christine Sun Kim. „Every Life Signs“. Installationsansicht. Haus der Kunst 2022. Foto: Judith Buss
Christine Sun Kim. „Every Life Signs“. Installationsansicht. Haus der Kunst 2022. Foto: Judith Buss
Christine Sun Kim. „Every Life Signs“. Installationsansicht. Haus der Kunst 2022. Foto: Judith Buss
Christine Sun Kim. „Every Life Signs“. Installationsansicht. Haus der Kunst 2022. Foto: Judith Buss

Kim reflektiert mit der Installation über Interaktionen mit und in audio-zentrischen Gesellschaften. Die konstante Übersetzung und die Einbeziehung von vermittelnden Instanzen wie Dolmetscher*innen führen bei Tauben* Menschen oftmals zu Situationen der Fehlkommunikation und zu unpräzisen klanglichen Nuancen, die Wiederholung und Korrektur erfordern. Kim fängt die physische Manifestation von Wiederkehr, Dauer und Verzögerung sowie die Erfahrung, sich außerhalb standardisierter Zeitvorstellungen zu bewegen, in ihrer multimedialen Installation ein. 

Every Life Signs lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Rhythmus des Lebens von Tauben* Menschen und thematisiert zugleich wie Grundeigenschaften von Kommunikation alltägliche Erfahrungen beeinflussen. 

Gleichzeitig entwirft Kim eine Zukunftsvision, die vielfältigen Formen der Kommunikation und Wahrnehmung gleichermaßen Raum gibt. Die betretbare Bodenpartitur lädt die Besucher*innen ein, sich mit dieser physischen, visuellen und räumlichen Welt auseinanderzusetzen und Vorstellungen über Alltägliches und Methoden des Informationsaustauschs neu zu denken. 

Kuratiert von Elena Setzer


*Sowohl die Bezeichnungen „gehörlos“ als auch „taub” werden im deutschen Sprachraum verwendet. Im Rahmen von „Every Life Signs“ verwendet das Haus der Kunst nach Empfehlungen des Deutschen Gehörlosen-Bundes e.V. die Bezeichnung „Taub“ anstatt „Gehörlos“. In Anlehnung an den im englischen Sprachraum verwendeten Begriff „Deaf“ wird der Begriff „Taub“ auch in der Gehörlosen-Community in Deutschland immer beliebter, da dieser sprachlich keinen Mangel impliziert (anders als das Suffix: „-los”). Die Großschreibung verweist entsprechend dem Selbstverständnis der Künstlerin auf Taubheit („Deafness“) als kulturelle Identität.